Neue Perspektiven

7:55 in Wien im 2. Bezirk. Corinna sitzt bereits mit einem Grüntee neben sich vor dem Laptop. Seit sie sich in der Früh den Weg spart, startet sie bereits um 8 Uhr in den Arbeitstag – da hat sie zumindest ihre Ruhe und wird nicht im Minutentakt im firmeninternen Chat angeschrieben. Es kann sein, dass sie dafür noch ihre Pyjamahose anhat, aber who cares. Corinna ist mittlerweile seit einem Jahr fast durchgehend im Homeoffice. Ihr Wohnzimmer ist gleichzeitig ihr Büro, ihr Esstisch auch ihr Schreibtisch. Die 31-Jährige hat Theater-, Film- und Medienwissenschaften an der Uni Wien studiert und ist mittlerweile bei der Online-Marketing-Agentur otago in der Projektkoordination und im Marketing tätig. Sie braucht keine physischen Unterlagen oder Ausdrucke. Da ihr Job rein digital funktioniert, reicht ihr ein Laptop. Okay – ein ergonomischer Schreibtischstuhl wäre auch nicht schlecht. Um Rückenschmerzen und Bewegungsmangel entgegenzuwirken, startet sie immer mal wieder mit Yoga in den Tag. Eine Kollegin ist gleichzeitig Yogalehrerin und bietet virtuell Yogastunden für das Team an.

Corinna (31) ist im Marketing tätig und seit einem Jahr im Homeoffice

Es passiert zwar noch immer nicht viel, aber ich habe meine Routinen gefunden“, erzählt Corinna. Nach der Arbeit nimmt sie sich vor, jeden Tag zumindest spazieren zu gehen, um Abstand zu ihrem „Büro“ zu bekommen. Wenn sie nach Hause kommt, ist es dann wieder ihr Wohnzimmer. Sehr resiliente Einstellung!

Resilienz – (Un-)Wort des Jahres?

Resilienz ist gefühlt zum Schlagwort des Jahres geworden.  Aber was heißt das überhaupt? „Grob gesagt ist die Resilienz die Widerstandsfähigkeit, ein Begriff, der eigentlich aus der Physik kommt“, erklärt Irina Nalis-Neuner. Sie ist Arbeits- und Organisationspsychologin, forscht am Institut für Angewandte Psychologie der Universität Wien und ist Teil des Teams „Arbeit im Wandel“ – sie muss es wissen. „Bei der Resilienz geht es um die stärkenden Ressourcen, die man braucht, um besser mit Widerständen und Krisen umzugehen, und die Suche danach ist eine Lebensaufgabe.“

An alle, deren geistige Mitte etwas aus der Balance ist: Gebt die Hoffnung also noch nicht auf! Auch wenn es einige Gründe gäbe, die da lauten: Kontaktbeschränkungen, Zoom-Marathontage, Ausgangssperren, Distance Learning beziehungsweise zusammengefasst globale Pandemie, und das seit einem Jahr.

Mag.a Irina Nalis-Neuner ist Arbeits- und Organisationspsychologin an der Universität Wien und Teil des Teams „Arbeit im Wandel“.

Allerdings:

„Wir sind nicht das, was uns passiert, sondern das, was wir daraus machen und wie wir damit umgehen“

bestätigt Nalis-Neuner. Der wichtigste Aspekt ist das Anerkennen dessen, dass es eine Krise gibt, und sich darüber klar zu werden, dass man diese nicht selbst verschuldet hat, man sich keine Vorwürfe machen muss und auch nicht nach den Schuldigen suchen – was bringt das? Am besten man verwendet seine Kraft, um zu schauen, welchen Teil man selbst verändern kann. Nämlich einen sehr großen: Auf unsere gesamte innere Landschaft haben wir großen Einfluss. Frag dich also: „Was nervt mich? Was kann ich anpacken? Was muss ich liegen lassen?“ Diese Unterscheidung ist vor allem nach so langer Zeit wichtig. Irina Nalis-Neuner ist sich sicher, dass man diesen Veränderungsmuskel auch trainieren kann und das ist sehr hilfreich. Das kann auch erschöpfend sein und bis zu einem „geistigen Muskelkater“ führen. Aber auch das ist Teil der Balance. Trotz gereizter Grundstimmung und Corona Fatigue wird jede*r gezwungen, genauer hinzuschauen: Eine Krise ist immer auch ein Knackpunkt, der Dinge in Bewegung setzt. Erst wenn man aus dem automatischen Trott gerissen wird, kommt man zum Nachdenken und stellt vieles sogar infrage.

Wenn die Zwangspause zum Neubeginn wird

Auch Alexandra hat sich gefragt, was sie verändern kann, und dann danach gehandelt. Die 30-Jährige hat im Sommer ihre Fixanstellung in einem Architekturbüro gekündigt, um sich eigenen, kreativeren Projekten zu widmen. Für sie war der erste Lockdown ein Wendepunkt: „Auf einmal war alles on hold und ich war mehr als einen Monat mit zehn Prozent in Kurzarbeit. Ich hatte also für die Arbeit fast nichts zu tun und habe schnell gemerkt, dass mir trotzdem nicht langweilig wurde. Das hat dann einiges in Bewegung gesetzt.“ Alexandra, die neben Architektur auch Kunstgeschichte studiert hat, hat die Zeit in der Kurzarbeit mit kreativen Projekten gefüllt, wieder zu malen begonnen und Grafik- und Architekturprojekte für den Freundes- und Bekanntenkreis umgesetzt. Sie bezeichnet sich selbst eher als ruhigen Menschen und erst, als sie sich zu Hause in ihrer Kreativität voll entfalten konnte, wurde ihr bewusst, wie unkonzentriert und unwohl sie sich meistens im Großraumbüro gefühlt hat. „Ich hatte immer das Gefühl, es steht ständig jemand hinter mir, und im Homeoffice ist dieser enorme Druck weggefallen. Mir geht es auch besser, wenn ich selbstbestimmt arbeiten kann, das ist mir jetzt in aller Deutlichkeit klar geworden. Eine Fixanstellung ging in meinem Fall mit einiger Unflexibilität einher“, erzählt sie. Mittlerweile ist sie in einem Büro in Teilzeit angestellt und macht dort Grafik- und Webdesign. Nebenbei baut sie ihre Selbstständigkeit mit „ah Design“ aus. Sie ist froh, den Sprung ins Ungewisse gewagt zu haben. Dieser globale Schockmoment und der Ausnahmezustand im letzten Jahr haben ihr gezeigt, wie schnell sich die Dinge von einem auf den anderen Tag ändern können: „Ich dachte mir, was habe ich zu verlieren! Natürlich war ich in einer privilegierten Lage, denn wann hat man schon einen Monat Zeit, um zu reflektieren und sich gezwungenermaßen nur mit sich zu beschäftigen?

Alexandra (30) hat in der Krise gekündigt und sich mit a-h.design selbstständig gemacht.

Es war ein Jetzt-oder-nie-Moment und ich habe die Chance ergriffen, aus dem Hamsterrad auszubrechen!“

Gleiche Chance für alle? Unmöglich.

Wie unterschiedlich die Gegebenheiten in der Krise für einzelne Menschen sind, wird auch im Gespräch mit Janet Kuschert, Geschäftsführerin von Sindbad, deutlich. Das Social Business bietet Mentoring für Jugendliche an und hat im letzten Jahr einmal mehr erfahren, wie wichtig dieser Beitrag für die Gesellschaft ist. „Chancengleichheit ist einfach nicht gegeben, und dafür fehlt das Bewusstsein. Diese Krise trifft Menschen unterschiedlich stark“, bestätigt Janet. Weiteres erzählt sie, dass sich gleichzeitig auch sehr viele junge Menschen engagieren wollen, dass das Angebot aufgestockt und die Prozesse optimiert werden sollen.

Janet Kuschert (30) ist Geschäftsführerin des Social Business Sindbad.

Diese Krise hinterlässt ein Bewusstsein für das Thema gesellschaftliche Verantwortung und Zusammenhalt und viele wollen ihren Beitrag leisten.

Janet ist zuversichtlich, dass dieser Trend auch nach Corona anhält. Aber nicht nur das ist der Grund dafür, dass sich das junge Unternehmen souverän durch Remote Work und andere Herausforderungen manövriert. Die globale Pause-Taste dieses historischen Frühlings 2020 war natürlich mit Unsicherheit verbunden, gleichzeitig gab es viel Solidarität. Janet erzählt: „Die Unsicherheit hat sich schnell in total viel Kraft umgewandelt, weil klar wurde, dass Sindbad so gebraucht wurde, wie nie zuvor. Der Bedarf der Zielgruppe ist so deutlich geworden, dass uns das alle sehr motiviert hat.“ Der Leitspruch von Sindbad „Wir schaffen Beziehungen“ leidet natürlich unter Social Distancing, aber dann wurden eben andere Methoden gefunden: „Wir mussten schon viel Energie reinstecken und haben zum Beispiel einfach mal 300 T-Shirts mit handgeschriebenen Notizen verschickt, um auch auf analoge Art Beziehung aufrechtzuerhalten.“ Auch im Arbeitsalltag hat sich natürlich viel verändert. Janet nennt ein Beispiel: „Wenn meine Mitarbeiterin mittags sagt, sie geht jetzt zwei Stunden in der Sonne spazieren, sage ich halt: Passt, viel Spaß!“ Das liegt nicht nur daran, dass sie eine coole Chefin ist, sondern auch daran, dass in der Unternehmenskultur schon immer Wert auf Flexibilität gelegt wurde. Allerdings wurde diese früher nicht so sehr gelebt, jetzt wird das auch mehr genutzt. „Gerade in einer Situation, wo uns viele Freiheiten genommen wurden, versuchen wir diese an anderer Stelle zu schaffen. „Dieses Entgegenkommen von den Arbeitgeber*innen ist laut Irina Nalis-Neuner natürlich enorm wichtig, um die Resilienz der Mitarbeiter*innen zu fördern. Vor einem Jahr wurde alles Mögliche probiert, von gemeinsamen Online-Yogastunden bis zu virtuellen Geburtstagsdrinks. Das war am Anfang neu und spannend. Mittlerweile ist in der Veränderung das Alltägliche eingetreten und es ist normal, dass es nicht normal ist. Das heißt aber nicht, dass die Intentionen sich verändert haben. Der Neuigkeitswert ist zwar verloren gegangen, aber nur, weil es nicht mehr neu ist, ist es nicht weniger relevant – es ist sogar relevanter denn je. Falls du also die eine Person bist, die noch Kraft hat, trommle alle zum gemeinsamen virtuellen Pubquiz zusammen oder bitte die Kollegin, wieder mal eine Yogastunde abzuhalten.

Ziel: erneuerte Realität

Irgendwann werden wir auch wieder Yogastunden in Studios erleben, aber bis dahin richten wir uns den Status quo gut ein und machen das Beste draus. Irina Nalis-Neuner ist kein Fan vom Begriff „neue Normalität“ –

es ist auch einiges falsch gelaufen in der „alten Normalität“, also wäre es nicht für alle am besten, wir schaffen eine ganz neue Realität?

Und was ist schon normal? Wir wünschen uns alle, mit einigen Learnings (abgesehen von Videocall-Skills) aus dieser Krise zu gehen. Welche Schritte sind dafür notwendig, um nicht wieder in alte Muster zu verfallen? Homeoffice-Profi Corinna möchte sich die Freiheit, bei Schönwetter am Nachmittag eine längere Pause machen zu können, auf jeden Fall beibehalten. Sie beantwortet dafür auch gerne abends auf der Couch noch ein paar E-Mails. Wichtig ist dabei nur, ausreichend Kommunikation mit den Kolleg*innen, damit klar ist, wann jemand erreichbar ist und wann nicht. Auch Alexandra ist froh, dass sie kurze Abstimmungen mit Kund*innen jetzt ganz selbstverständlich per Videocall machen kann, und möchte das auch in Zukunft so umsetzen, vor allem, um längere Anfahrten zu vermeiden. Janet Kuschert erzählt ebenfalls: „Wir haben vorher noch nie einen digitalen Kick-off für einen neuen Sindbad-Standort durchgeführt, aber es ging dann auch. Ich freue mich auf den Moment, wo wir uns aktiv dafür entscheiden eine Konferenz online zu machen, weil es mehr Sinn ergibt, obwohl wir uns persönlich treffen könnten.“

Es sind sich also alle einig: Der erzwungene Fortschritt von Homeoffice, Videocalls und Digitalkonferenzen war zwar anfangs viel auf einmal, sollte langfristig aber sinnvoll genutzt werden. Und hier muss auch nicht Schluss sein – die neuen Kommunikationsmöglichkeiten erschließen neue Optionen, an die man sich früher nicht rangetraut hätte oder die es nicht in der Vielzahl gab. Wie das Beispiel von Sindbad zeigt, ist der gesamtgesellschaftliche Purpose von Arbeit wieder mehr in den Fokus gerückt. Gleichzeitig haben viele mit dem Wegfall von lustigen Mittagspausen mit Kolleg*innen oder dem schicken Büro gemerkt: Das kann nicht alles sein, meine Arbeit alleine genügt mir nicht. Es muss sich was ändern. Egal, ob in Job oder Studium – deine persönliche Weiterentwicklung ist nicht gestoppt! Kleine Veränderungen können schon viel bewirken: Fang einfach mal damit an, dein LinkedIn-Profil zu frisieren. Mentoring- und Coaching-Sessions gibt es auch per Videocall und manche Netzwerke sind online gerade aktiver denn je. Eine Karrieremesse in Berlin mit spannenden Speaker*innen? Super, du sparst dir ein Flugticket und kannst – vermutlich sogar günstiger – trotzdem teilnehmen. Chat Roulette und Clubhouse sind natürlich nicht dasselbe, wie wenn man mit jemandem ganz natürlich am Buffettisch einer Veranstaltung ins Gespräch kommt, aber was ist die Alternative? Erinnere dich: Fokussiere dich auf die Dinge, die du verändern kannst und deine Einstellung gehört auf jeden Fall dazu.

Also durchhalten.


Dieser Artikel ist ein Gastbeitrag von Anna Gugerell, erschienen im Rise Karrieremagzin.



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